Kölner Krisen-Klausur: Nagelsmann reagiert auf Quali-Pleite
Veröffentlicht: Freitag, 05.09.2025 11:47

Fußball-Nationalmannschaft
Bratislava (dpa) - Rudi Völler und Joshua Kimmich redeten nach der Blamage von Bratislava in großer WM-Sorge Klartext. Abwehrchef Antonio Rüdiger zeigte zumindest bei einer Kabinenpredigt die vermissten Emotionen. Der maximal konsternierte Bundestrainer Julian Nagelsmann sah derweil so aus, als würde er zur dringend notwendigen Fehleranalyse gerne wieder in seine geliebten Allgäuer Berge statt zur Krisen-Klausur nach Köln.
Quali-Angst statt großspurige Titelträume, das ist die Realität der Fußball-Nationalmannschaft nach dem historischen 0:2 in der Slowakei. Statt auf einer Almhütte muss der Bundestrainer am Rhein im Eiltempo die richtigen Antworten für das zweite Spiel in der Ausscheidungsrunde für das Mega-Turnier 2026 am Sonntag (20.45 Uhr/RTL) gegen Nordirland finden. Sonst gerät die direkte Qualifikation tatsächlich in ernsthafte Gefahr.
Sportdirektor und Kapitän als Mahner
«Wenn wir so weitermachen, wird es ganz schwierig, dass wir uns für die WM qualifizieren», sagte Kapitän Kimmich. Rumms! «Wenn uns die paar Prozent fehlen, wird es ein bitteres Erwachen geben», sagte auch Sportdirektor Völler. Rumms! Die Fans erwarten eine Antwort mit Symbolkraft.
«Natürlich ist das eine Drucksituation. Und wir alle wissen, was auf dem Spiel steht. Und das erwarte ich, dass man das auch gegen Nordirland merkt und wir eine Reaktion zeigen», sagte der 30 Jahre alte Kimmich.
Mit der selbstkritischen Analyse seines Kapitäns, der nach 2018 und 2022 den Blamage-Hattrick bei einer WM fürchtet, konnte Nagelsmann spontan nicht mithalten. Der Fußball-Offenbarungseid hatte die Titel-Ankündigungen des Bundestrainers konterkariert. Verbal-Weltmeister, ja. Aber auf dem Platz?
Die neuen Ideen des 38-Jährigen nach dem enttäuschenden letzten Platz beim Final Four der Nations League im Juni mündeten in einem laut Völler «leblosen» Auftritt. Aber Nagelsmann bleibt in seiner WM-Zielsetzung unbeirrt. Der Titel? Ja, was sonst? Er kann auch nicht mehr anders. Alles andere wäre aus seiner Sicht «ein fatales Zeichen nach innen und außen».
Auf andere Spieler setzen?
Nagelsmann entschied sich im ersten TV-Interview zu einem unerwartet deutlichen Charakter-Angriff auf sein Personal. «Vielleicht müssen wir tatsächlich auf weniger Qualität setzen, sondern auf Spieler, die einfach nur alles reinwerfen», sagte der Bundestrainer in der ARD. Rumms! «Emotion» war das Schlagwort, das er gleich mehrfach nutzte.
Natürlich kann Nagelsmann jetzt keinen personellen Radikalschnitt vollziehen wie vor der Heim-EM, als er nach dem 0:2 in Österreich und einer wochenlangen Analyse Toni Kroos zurückholte. Er hat weder Zeit noch Alternativen.
In Bratislava folgte die schnelle Relativierung im Schuldspruch für sein Personal. «Ich habe Vertrauen in die Mannschaft, sonst würde ich sie nicht einladen. Ich glaube auch, dass jeder Spieler, der dabei ist, die Emotionalität rauskitzeln kann», sagte er nach der ersten Auswärtsniederlage überhaupt in einer WM-Ausscheidung für eine DFB-Elf.
Völlers Umweg ins WM-Finale 2002
Ein «paar Stunden» Bedenkzeit erbat sich Nagelsmann. Mit Völler wolle er sich beraten, was nun zu tun sei. Der heutige Sportdirektor musste vor der WM 2002 als DFB-Teamchef nach einem krachenden 1:5 gegen England in die WM-Playoffs und holte auf dem Umweg gegen die Ukraine das Turnier-Ticket. Dann ging es bis ins WM-Finale von Yokohama gegen Brasilien (0:2). Nagelsmann will am 19. Juli 2026 im MetLife Stadium in New York im Endspiel stehen.
Zwei K.o.-Spiele im März 2026 will Nagelsmann zuvor unbedingt vermeiden. Dafür muss aber der Gruppensieg her. Während in der Slowakei über den Coup einfach nur gejubelt wurde, wird sich in anderen Ländern über die DFB-Elf nur noch gewundert. Und Nagelsmann kommt dabei nicht gut weg.
Verwunderung im Ausland
«Wäre der Deutsche Fußball-Bund ein Club, hätte es Konsequenzen für Trainer Nagelsmann. In der WM-Qualifikation zeigt sich: In den bald zwei Jahren unter Nagelsmann hat das Team keinen Schritt nach vorn getan», analysierte die «Neue Zürcher Zeitung». Personaldebatten um Nagelsmann gibt es beim DFB noch nicht.
Für die französische «L'Équipe» gibt Deutschland «Anlass zur Sorge.» Und aus Österreich kam von der Kronen-Zeitung knapp und süffisant der Kommentar: «Deutschland fängt sich 0:2-Watschn in der Slowakei.»
Völler ist jetzt mal wieder in seiner Kernkompetenz als Krisenmanager gefragt. Denn die Mängelliste ist sehr lang. Nnamdi Collins (21) erlebte als rechter Außenverteidiger ein schreckliches Länderspiel-Debüt und musste von Kimmich und Nagelsmann nach der Halbzeit-Auswechslung getröstet werden.
Fakt aber ist, dass Nagelsmann für diesen Posten wenig Personal hat. Kimmich doch schnell wieder aus der Zentrale zurückziehen? Mittelstädt von links nach recht beordern wie in der zweiten Halbzeit in der Slowakei? Oder auf Collins vertrauen und diesem gegen die offensiv weniger beherzten Nordiren eine zweite Chance geben? Nagelsmann muss sich entscheiden.
Doppelte W-Frage
Missglückt ist auch die Idee, Leon Goretzka als Zehner vor Kimmich und Angelo Stiller aufzubieten. Die Power des Münchners, der gegen Italien im März noch auftrumpfte, verpuffte. Problematisch ist für Nagelsmann auch die doppelte W-Frage. Florian Wirtz und Nick Woltemade sind nach ihren spektakulären und kostspieligen Transfers zum FC Liverpool beziehungsweise Newcastle United auf der Suche nach ihrer Topform.
«Wir hatten ganz wenig gefährliche Abschlüsse», sagte Kimmich. Vor «der Kiste» war «nicht viel los», merkte er an. Öffentliche Schuldzuweisungen wird es aber nicht geben. Auch Routiniers wie Rüdiger und Jonathan Tah in der Abwehrzentrale spielten sehr schwach. Serge Gnabry verletzte sich zudem am linken Arm. Ein Einsatz gegen Nordirland ist ungewiss.
«Es geht jetzt überhaupt nicht darum, dass jetzt der eine auf den anderen guckt, dass wir uns gegenseitig beschuldigen. Wir alle sitzen in einem Boot», sagte Kimmich. «Was uns nicht passieren darf, ist, dass wir uns jetzt selbst zerlegen und diesen Glauben und diese Überzeugung in unsere Qualität und diese Gruppe verlieren.»
In Robert Andrich könnte Nagelsmann einen emotionalen Anführer ins defensive Zentrum beordern. Das klappte auch vor der EM sehr gut. Der Bundestrainer muss jetzt vor allem in die Köpfe der Spieler kommen, ihr Mindset ändern. Er erinnerte an die Heim-EM: «Wir waren emotional. Jeder hatte Bock, uns zu sehen. Das ist leider wieder weniger geworden.»

